Philosophen, jeder Glaube und die großen Religionen, sämtliche Gurus der Welt, Psychotherapeuten und wirklich jeder Yogalehrer! Jeder spricht vom Loslassen. Ich bin mir sicher, du hast das Wort auch schon mal in den Mund genommen. Ich selbst, nicht nur einmal. Wie leicht gibt man einer Freundin mit Liebeskummer den guten Ratschlag:
„Lass es einfach los!“
Ja, was soll ich sagen? Loslassen ist ein toller Tipp. Rein theoretisch auf alle Fälle. Die Sache hat nur einen Haken! Keiner hat mir je eine Gebrauchsanweisung dazu gegeben. Zumal wir hier ja nicht von Dingen sprechen, die wir in der Hand halten und wie eine heiße Kartoffel fallen lassen können. Es geht um Gefühle, um Ärger, Verletztheit und Minderwertigkeit. Wie soll ich das loslassen, wenn sie doch fest in mir verankert sind.
Da finde ich das englische Pendant „let it be“,
„Lass es einfach bleiben“
wesentlich greifbarer. Es ist viel einfacher umzusetzen. Wenn ich mich wieder mal ärgere, mir denke, dass ich etwas nicht kann oder mich etwas nicht traue, weil ich mir Gedanken mache, was andere davon halten könnten, dann sag ich mir: „Hör auf damit! Lass diese beschränkenden Gedanken einfach bleiben!“ Heißt nicht, dass mir das immer 1:1 gelingt, aber es macht mich handlungsfähig.
Zudem steckt alleine in der Wortwahl etwas Positives. Wenn ich etwas bleiben lasse, dann darf es da sein. Es sagt praktisch „Ja“ zu etwas, das ich im Grunde ablehne. Ein Paradoxon wie es im Buche steht! Hast du an dir schon einmal beobachtet, dass alles, was du ablehnst, erst recht an Energie gewinnt, weil du dem ganzen so viel Aufmerksamkeit schenkst? Wir verbrauchen unsere Kraft für die Ablehnung selbst und wundern uns, warum wir schwer, energielos und müde sind. Und das, was so ungeliebt ist und wir doch loslassen wollen, nimmt mehr und mehr Platz ein.
Meine Geschichte zum „Loslassen“
Im Grunde bin ich aber über eine ganz andere Geschichte heute morgen auf das Thema „Loslassen“ gekommen. Ich habe vor einigen Jahren einen Blog begonnen mit dem Titel „Frau Aussteiger“. Die Sache war die, dass ich meinen Job gekündigt und meinen Haushalt aufgelöst hatte, um für ein Jahr durch die Welt zu reisen. Ich ließ mein altes Leben sozusagen zurück. Trennte mich von allem, das mir vertraut war und was mir Struktur gab. Ich weiß gar nicht, ob für mich damals das Wort „Loslassen“ schon so präsent war. Aber letztendlich ging es genau darum, ich dachte mit dem Ortswechsel würde ich so einiges, das mir nicht mehr gefiel und das ich nicht mehr sein wollte, loslassen. Doch weit gefehlt, ich hatte es vielleicht hinter mir gelassen, weg war es deshalb noch lange nicht!
Abschied nehmen hat viele Gefühle
Stell dir vor du bist der Hauptdarsteller in einem alten Western-Film. Du sitzt in einem Zug, der durch endlose Weiten fährt und irgend etwas veranlasst dich, die Notbremse zu ziehen. Der Zug hält mit viel Gewackel und Gerumpel an, du steigst aus. Die Mitfahrenden starren dich an, der Schaffner schimpft, doch der Zug nimmt allmählich wieder fahrt auf. Und du stehst da, alleine mitten in der Pampa und du fragst dich „Wohin jetzt?“ Dieses Bild veranschaulicht sehr gut meine damalige Situation. Ich nannte mich Frau Aussteiger und war im Niemandsland. Es spielt keine Rolle, wovon du dich verabschiedest, einem Job, einem Partner oder einer Wohnung, es ist immer die gleiche Situation: viele Emotionen, alles ist fremd und du hast noch keine Ahnung, wie und wo du dich wieder findest. Ein gefundenes Fressen für Zweifel, Angst und Grübelei.
Schwellenzeit
Es wäre Zeit, loszulassen, doch deine Gedanken wandern immer wieder in die Vergangenheit. Du bist noch eng verwoben mit dem, was du doch eigentlich verlassen hast, egal ob aktiv oder passiv. Das Alte ist unwiederbringlich zu Ende!
Warum fällt es uns so schwer, das zu akzeptieren? Oft ist es ja unser eigener Entschluss gewesen zu gehen. Und sollte es nicht so gewesen sein, müssen wir zugeben, dass gerade, wenn es sich um eine Partnerschaft handelt, meist schon länger etwas nicht mehr in Ordnung gewesen ist. Wie auch immer, wenn du bis hierher weitergelesen hast, gehe ich davon aus, dass du das Gefühl des Stilstands kennst. Die Zeit, in der du wie paralysiert bist und was auch immer du versuchst, es endet immer wieder am alten Punkt. Von Loslassen keine Spur.
Sören Kierkegaard:
Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden
Zurück zu meiner Aussteiger-Geschichte. Es brauchte einfach viel Zeit. Zeit, in der ich Ursachenforschung betrieben habe über die Gründe, die mich dazu gebracht haben, zu gehen. Angefangen habe ich bei meinem Umfeld, meinen Freunden, meiner Familie, dann ging es zurück in meine Kindheit. Sehr vielschichtig und sehr Tiefgründiges hat sich mir gezeigt. Irgendwann war ich an den Punkt gekommen nicht mehr in alten Erfahrungen und Umständen den Grund suchen zu müssen. Ich war bei mir angelangt, bei meinem Selbstbild, meinen Glaubenssätzen und Überzeugungen, und dass es vollkommen egal war, woher diese kommen. Wichtig ist, dass ich anfange die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.
Ich bin die Gestalterin meines Lebens!
Ich habe es in der Hand, mit welcher Einstellung ich durchs Leben gehe. Ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein, verband ich mich immer wieder mit minderwertigen Gefühlen. Ich hatte Wünsche und Träume und versuchte so einiges, um diese wahr werden zu lassen. Doch je mehr ich meinte, dafür etwas tun zu müssen, umso mehr wehrte sich in mir etwas. Heute weiß ich, dass mein eigener Widerstand mich dazu drängte, endlich hinzuschauen und mich selbst wahrzunehmen. Tief in mir war ich ein Kind geblieben, das Angst hatte, nicht gewollt zu sein und alles tun musste, um geliebt zu werden. Als ich am Kern der Sache angekommen war, durfte das Wunder geschehen:
Ich musste nicht mehr loslassen, denn es hatte mich losgelassen.