Geduld ist eine wertvolle Tugend
Wie oft bin ich am Hadern mit mir und meinem Leben! Beschwere meinen Alltag im wahrsten Sinn des Wortes mit trüben Gedanken. Ich könnte besser, höher, perfekter, schlanker, schöner und überhaupt viel weiter sein.
Dabei liegt mein Unglück in der Beschwerde selbst. Mit ihr hole ich mir Trübsinn und Kraftlosigkeit in jede Zelle meines Körpers und wundere mich dann, dass ich nicht mit Freude und Leichtigkeit durchs Leben tanze.
Weit gefehlt, wenn ihr denkt, dass ich meine Vorwürfe und Verurteilungen an andere Menschen, Umstände oder das Leben selbst richte. Nein, nein, so weit bin ich schon fortgeschritten, dass die alle nichts dafür können. Doch vor mir selbst, da gibt es kein halten. Und wenn ich etwas richtig gut gemacht habe, dann flüstert ein kleines Stimmchen: „Aber ein bisschen schneller wäre es auch gegangen.“
Ich habe noch kein Patentrezept, wie ich es gänzlich abstellen könnte. Was mir aber schon über so manche schwierige Situation hinweggeholfen und mir Trost und Hoffnung geschenkt hat, ist das folgende Gedicht:
Die Geduld
Rainer Maria Rilke
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.